Macht & Machtlosigkeit – Zwei Seiten derselben Medaille
Was macht Machtlosigkeit mit uns?
Neulich schrieb mir mein Papa eine Nachricht. Zum ersten Mal sprach er offen über seine Hilflosigkeit. Meine Mama ist unheilbar erkrankt, sie ist geschwächt, bekommt Behandlungen, durchläuft eine Arzt-Odyssee. Und sie hält sich tapfer. Mein Papa hingegen weiß nicht, wie er ihr noch helfen kann. Er sagt, er weine viel – vor allem, wenn er allein ist. Er fühlt sich überfordert, machtlos, und kann mit niemandem so richtig darüber reden, weil er dann „zu emotional“ wird.
Als Coach hätte ich viele Ideen gehabt: Dass Machtlosigkeit ein Gefühl ist, das dazugehört. Dass er Verantwortung nur bis zu einem gewissen Punkt tragen kann. Ich hätte mit ihm an seinem Machtbewusstsein arbeiten können – daran, zu erkennen, was in seiner Hand liegt, und was eben nicht.
Aber ich bin nicht nur Coach. Ich bin seine Tochter. Und in dieser Rolle war mein wichtigster Beitrag: Zuhören. Ich habe ihm angeboten, mir zu schreiben oder Sprachnachrichten zu schicken, die er auch wieder löschen kann. Kein Druck, keine Analyse – nur Raum.
Diese Situation hat unsere ganze Familie plötzlich verändert. Mein Vater – ein Mann, der zeitlebens nie über Ängste sprach – zeigt sich verletzlich. Offen. Ehrlich. Ich bin so stolz auf ihn. Auch mein Bruder hat dafür berührende Worte gefunden. Es hat etwas in uns aufgebrochen – und uns gleichzeitig verbunden.
Machtbewusstsein – was bedeutet das eigentlich?
Der Beitrag soll sich mit einem oft missverstandenen Thema beschäftigen: Macht. Ein Begriff, der viele abschreckt. Auch mich.
Für mich war „Macht“ lange negativ belegt – ich verband damit autoritäre Männer, Unverletzbarkeit, Kontrolle. Umso mehr berührt es mich, wenn mein Vater oder mein Bruder ihre emotionale Seite zeigen. Denn das ist für mich wahre Stärke. Wahre Macht.
Macht bedeutet nicht Kontrolle im Sinne von Festhalten oder Mikromanagement. Das habe ich in meiner letzten Anstellung oft erlebt – dort, wo Führungskräfte „alles im Griff“ haben wollten, wurde nichts mehr „fließend“. Kontrolle bremst. Macht hingegen kann auch bedeuten, die Richtung vorzugeben und gleichzeitig loszulassen.
Machtvoll = Wirksamkeit + Hingabe
Machtvoll zu sein, heißt für mich heute:
- Veränderung gestalten
- Dem Leben vertrauen
- Loslassen, was man nicht ändern kann
- Andere ermächtigen, statt sie kleinzuhalten
Macht hat eine schöpferische Komponente. Wir unterschätzen oft, wie viel wir bewirken, wenn wir andere in ihre Verantwortung bringen, statt alles selbst kontrollieren zu wollen.
Fragen an dich:
- Wo fühlst du dich machtvoll?
- Wo kontrollierst du (noch) zu viel?
- Wo könntest du anderen mehr zutrauen?
Die andere Seite: Machtlosigkeit
Machtlosigkeit ist ein Gefühl, das wir oft vermeiden wollen. Doch sie gehört genauso zum Menschsein wie das Gefühl, etwas bewirken zu können. Als meine Mama durch ihre Krankheit nichts mehr selbst machen konnte, kämpfte sie innerlich dagegen an. Es machte sie wütend, so „schwach“ zu sein.
Ich sagte ihr irgendwann: „Vielleicht musst du gerade nicht kämpfen. Vielleicht darfst du dich einfach mal schwach fühlen – und darin Kraft finden.“ Nach und nach konnte sie das annehmen. Nicht weil sie aufgab – sondern weil sie sich selbst Mitgefühl schenkte. Und für mich war das ein machtvoller Moment.
Dualität: Ohne Macht keine Ohnmacht
In der Persönlichkeitsentwicklung spricht man oft von Dualität:
Ohne Licht kein Schatten. Ohne Angst keine Liebe. Ohne Macht keine Ohnmacht.
Wir alle tragen beides in uns – und dürfen beides fühlen.
Machtvoll sein. Machtlos sein. Und beides annehmen.
Ein kleines Beispiel:
Ich stand neulich an einem Fähranleger. Die Fähre war noch auf der anderen Seite. Neben mir wurde ein Mann unruhig und meinte zu seiner Frau: „Ich winke mal, dass sie rüberkommen!“
Ich musste schmunzeln. Klar – ein bisschen winken schadet nicht. Aber der Wunsch, sogar den Fahrplan der Fähre beeinflussen zu wollen, wirkte auf mich ein wenig irritierend. Ich fragte mich dann: Wie anstrengend muss es sein, sogar das kontrollieren zu wollen, was man einfach nicht in der Hand hat?
Reflexionsfragen zum Thema Macht
- Was bedeutet echte Macht für dich?
- Wo lebst du übermäßige Kontrolle oder Ohnmacht?
- Wonach bist du süchtig – und was gibt dir das Gefühl von Kontrolle?
- Welche Menschen haben (noch) Macht über dich?
- Wer hat dir beigebracht, dass Macht etwas Schlechtes ist?
Wenn du dich mit deinem Machtbewusstsein beschäftigst, begegnen dir oft auch Schattenanteile – also Persönlichkeitsaspekte, die du ablehnst, in dir oder in anderen.
Das könnten Teile sein wie: Lügner, Manipulierende, Rücksichtslose, Laute, Egozentrische.
Was du verdrängst, kämpft im Außen gegen dich. Was du annimmst, kannst du wandeln.
Macht ist kein starres Konzept. Es ist ein innerer Zustand. Wahre Macht beginnt da, wo wir Verantwortung übernehmen – für uns selbst, aber nicht für alles und jeden. Und wahre Größe liegt manchmal auch darin, die eigene Machtlosigkeit zuzulassen.
Kreislauf der Macht
Wie bereits erwähnt haben wir beides in uns – einen machtvollen Teil und einen machtlosen, oder ohnmächtigen Teil.
Man kann sich oft die Frage stellen, was man am liebsten sein will und damit aber gleichzeitig die andere Seite eher aussperren bzw. ignorieren will. Allerdings habe ich gelernt: Alles, was man wegsperrt in sich selbst, nicht sein will, unterdrückt usw., wird stärker auf eine individuelle Art und Weise. Wenn man sich überwiegend auf einer Seite befindet oder das so will und das andere ausklammert, wird’s ggf. toxisch und unangenehm.
Wir dürfen alles mal sein und auch zulassen, aber auf eine bewusste und reflektierte Art und Weise. Vielleicht bringt dich dieser Beitrag nochmal ein Stück weit zum Nachdenken, was Macht so macht 🙂 Witziges Wortspiel, oder?
Schreibe mir gerne deine Erkenntnisse in die Kommentare.
Liebe Grüsse,
Nicole
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